„Wir sind eine Einwanderungsgemeinde“: Eine ethnologische Gemeindestudie in Baden-Württemberg
Neuhausen ob Eck ist eine Gemeinde, in der knapp 4.000 Bewohner mit 47 verschiedenen Geburtsnationalitäten leben. In den letzten zwei Jahrzehnten verzeichnete die Gemeinde einen Zuwachs von rund 600 Neubürgern, darunter „Spätaussiedler“ aus Kasachstan, Kirgisien und Russland, aus dem ehemaligen Jugoslawien, Polen, Rumänien und den baltischen Staaten. Bürgermeister und Gemeinderat gaben 2013 eine ethnologische Forschung zum Thema „Integration und bürgerschaftliches Engagement“ in Auftrag.
Während einer zweimonatigen Feldforschung lebte ich als Ethnologin in der Gemeinde. Alteingesessene, Zugezogene und Neuhauser mit Migrationsgeschichte gewährten mir in mehr als hundert Interviews und informellen Gesprächen Einblicke in ihre Lebenswelten. Erst durch die längere Präsenz vor Ort war es möglich, das Zusammenleben unterschiedlicher sozialer Gruppen und ihren wechselseitigen Blick aufeinander genauer zu erforschen. Die Leitidee der Forschung war, dass Integration ein langwieriger, komplexer und wechselseitiger Prozess von Migranten und Aufnahmegesellschaft ist, der nicht auf einmaligen Aktionen, Festen oder Begegnungsmomenten beruhen kann. Die ethnologische Untersuchung orientierte sich an den kommunalpolitisch relevanten Fragestellungen wie beispielsweise: Woran liegt es, dass sich Bewohner mit Migrationsgeschichte bislang kaum in den klassischen Vereinen engagieren? Welche Zugangsbarrieren und kulturellen Grenzen spielen dabei auf Seiten Alteingesessener wie Zugezogener eine Rolle?
Im Verlauf der Forschung geriet das weitaus weniger beachtete Engagement von Migrantinnen in Schule und Kindergarten stärker in den Blick – in jenen sozialen Räumen also, in denen Integration alltäglich praktiziert wird. Die Studie erbrachte darüber hinaus weitere Einsichten: Etwa wie Zweisprachigkeit im Alltag migrantischer Familien gelebt wird, was Immigranten selbst unter gelungener Integration verstehen und welche Rolle ihre sozialen und verwandtschaftlichen Netzwerke dabei spielen. So entstand ein differenziertes Gegenbild zum gängigen Klischee, wonach sich „die Neubürger“ nicht in „die Dorfgemeinschaft“ integrieren wollten. Aber auch Schwierigkeiten wurden benannt, um auf die Möglichkeiten und Grenzen der „interkulturellen Öffnung“ in der Kommune aufmerksam zu machen. Nicht zuletzt wirkte die Studie ausgrenzenden Vorurteilsstrukturen entgegen: So konnten z. B. Medienberichte mit Fehlinformationen widerlegt werden, die ein Wohngebiet im Ort zum sog. „sozialen Brennpunkt“ erklärt hatten. Dies hatte zur Folge, dass sich die öffentliche Wahrnehmung dieses Quartiers auch über die Grenzen der Gemeinde hinaus veränderte.
Die Gemeinde Neuhausen ob Eck nahm zu Beginn des Jahres 2015 etwa 90 Flüchtlinge auf, die vom Sozialreferenten und einer Gruppe engagierter Dorfbewohnern betreut und unterstützt werden. Dass die Resonanz in der Bevölkerung insgesamt positiv sei, führte der Bürgermeister auch auf die nachhaltigen Wirkungen der Gemeindestudie zurück, die im Gemeinderat, in einer öffentlichen Bürgerversammlung und in der Lokalpresse vorgestellt worden war.
In diesem Projekt wurden ethnologische Feldforschung, Gemeinwesen- bzw. Sozialraumarbeit und kommunale Beratung kombiniert.